Münchner Merkur vom 07.08.2021
Arbeitskreis stellt Heft über Lebensbedingungen der Arbeiter in den Rüstungswerken vor
Verdienter Applaus: Etwa 60 Zuhörer verfolgten am Donnerstagabend die Vorstellung des neuen Geretsrieder Hefts im Ratsstubensaal. Manche Passagen waren rührend, manche sehr beklemmend.
© Sabine Hermsdorf-Hiss
Aktualisiert: 08.08.202113:10
So gelb wie Kanarienvögel
Von Doris Schmid
Ihr Alltag war hart und gefährlich: Über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in den Rüstungswerken hat der Arbeitskreises Historisches Geretsried ein Heft herausgegeben.
Geretsried – Es war die besondere Situation der Frauen, die Elgard Hartung interessierte. Als sie merkte, dass die Recherche über die Arbeiter in den beiden Rüstungsbetrieben doch ein weites Feld ist, stieg Thomas Holzer mit ein. Jetzt, nach zweieinhalb Jahren intensiver Arbeit, präsentierten die Mitglieder des Arbeitskreises Historisches Geretsried ihr Werk: Das neue Geretsrieder Heft (Nummer 7.5) der Reihe „Zwei Munitionsfabriken im Wolfratshauser Forst“.
Als 1939 mit dem Bau der Munitionsfabriken begonnen wurde, ging es in erster Linie um die Beschaffung von Arbeitskräften für die Baumaßnahme. Weil die firmeneigene Belegschaft nicht ausreichte, wurden sogenannte Dienstverpflichtete über das Arbeitsamt zugeteilt. „Anfangs waren es meist Deutsche, bald wurden immer mehr Ausländer arbeitsverpflichtet“, berichtete Autorin Hartung. Untergebracht waren die Bauarbeiter in Lagern auf der Böhmwiese (Lager Buchberg), in Waldram (Lager Föhrenwald) und in Stein. Angestellte und Ingenieure lebten in eigens für sie errichteten Siedlungen.
Frauen lösen Männer ab
Mit der Produktion in den Werken wurde im November 1940 (DAG) und im April 1941 (DSC) begonnen. Dreiviertel der Bauarbeiter stammten aus dem Ausland. „Nachdem die Bauarbeiten größtenteils abgeschlossen waren, wurden viele der männlichen Beschäftigen durch Frauen abgelöst“, ergänzte Holzer. Das waren überwiegend deutsche Dienstverpflichtete und Französinnen. Es wurden Arbeitsverträge von bis zu 24 Monaten unterschrieben. Holzer: „Diese wollten seitens der Rüstungsindustrie verlängert werden. Dazu waren die meisten französischen Arbeiter nicht bereit, nachdem die versprochenen Arbeitsbedingungen nicht der Wahrheit entsprachen.“
Der Produktionsdruck in der Rüstungsindustrie wurde immer größer, und die Arbeitsämter konnten den Bedarf an Arbeitskräften nicht mehr decken. Immerhin kamen 75 Prozent der Zündhütchenproduktion für den Bedarf der Wehrmacht aus Geretsried. Die Verpflichtung aller Bewohner der besetzten Ostgebiete, Arbeiten für die Besatzer zu verrichten, erfolgte im Dezember 1941 per Verordnung. Um die verfügten Kontingente zu erfüllen, griffen die deutschen Besatzer immer häufiger mit Terrorakten ein. Selbst Passanten auf offener Straße, Teilnehmer von Festen und Gottesdiensten wurden ergriffen und zu Sammelstellen gebracht.
Die hochgiftigen Kristalle der Pikrinsäure gelangten nahezu ungehindert durch die Haut oder die Atmung in den Körper. - Autorin Elgard Hartung -
Insgesamt knapp 8000 Menschen waren während des Kriegs in den Rüstungswerken beschäftigt. Sie wurden in die Gruppen der Freiwilligen, der Dienstverpflichteten und der Zwangsarbeiter unterteilt, außerdem „nach ihrer Herkunft und Rasse unterschieden und auch differenziert behandelt“, berichtete Hartung. „Entsprechend dem rassistischen Wertesystem der Nationalsozialisten, standen Polen und vor allem Ausländer aus der Sowjetunion, die einen Großteil der Belegschaft ausmachten, auf der untersten Stufe.“
Die Arbeitsbedingungen waren laut Holzer für alle Beschäftigten streng geregelt. Eine Begleitung von und zur Arbeit durch den Werkschutz war obligatorisch, ebenso eine Beaufsichtigung während der Dienstzeit. Es wurde in zwei, später in drei Schichten gearbeitet. Nicht selten war eine Arbeitszeit von zwölf Stunden üblich. „Trotz Schutzkleidung und Atemmasken war es bei der Verarbeitung des Sprengstoffs fast unmöglich, sich vor diesem aggressiven Pulver zu schützen“, so Hartung. „Die hochgiftigen Kristalle der Pikrinsäure gelangten nahezu ungehindert durch die Haut oder die Atmung in den Körper.“ Die Kleidung schützte sie jedoch nicht vor den gelben Verfärbungen an Haut, Haaren und Kleidung. Sie wurden von anderen Arbeitern als „Kanarienvögel“ bezeichnet. Zur Entgiftung erhielten die Arbeiter täglich einen halben Liter Milch.
Die Kantinenküchen wurden auch von Lieferanten aus der Umgebung beliefert. So musste Josef Hack, auch genannt „Gaderbauer“ aus Gelting, jeden Monat ein Stück Großvieh abliefern. Außerdem waren Bauern dazu verpflichtet, beispielsweise Getreide, Kartoffeln und Raps anzubauen. „Am Einödhof wurde auf großen Flächen Kohl angebaut, der auch Verpflegung der Arbeiter, insbesondere der Ostarbeiter diente“, schilderte Holzer.
Die gezahlten Löhne lagen für dienstverpflichtete Deutsche über dem bayerischen Durchschnittslohn. Frauen, die überwiegend eine gleichwertige Arbeit wie Männer leisteten, erhielten allerdings nur 75 Prozent des Stundenlohns. Am schlechtesten bezahlt wurden: die Ostarbeiter.
Stolz auf ihr Werk: das Autorenduo Elgard Hartung und Thomas Holzer.
© Sabine Hermsdorf-Hiss
Freundschaften und Beziehungen zwischen deutschen und ausländischen Arbeitern waren strengstens verboten. Trotzdem blieben diese nicht aus, und es kam zu Schwangerschaften, die oftmals monatelang verheimlicht wurden.
Viele Totgeburten in Entbindungsheim
Entbunden wurde bei einer Hebamme. Nur im Notfall kamen die Frauen ins Krankenhaus. Einige Kinder erblickten das Licht der Welt auch in den Lagern oder in einem Entbindungsheim, das in Gelting gebaut wurde. „Nachgewiesen ist, dass es in dem Entbindungsheim auffallend viele Totgeburten gab oder die Kinder manchmal nur wenige Tage lebten“, berichtete Hartung.
Die Kinder von Ostarbeiterinnen und Polinnen kamen mit großer Wahrscheinlichkeit von Amtswegen in Ausländerkinderpflegestätten, damit die Frauen umgehend wieder arbeiten konnten. Holzer: „Es ist bekannt, dass die Kinder in vielen Fällen, wegen äußerst schlechter hygienischer Zustände und einer absolut mangelhaften Ernährung zu Tode gepflegt wurden.“ Bei Ostarbeiterinnen wurde zudem Schwangerschaftsunterbrechungen vorgenommen – freiwillig und mutmaßlich auch unfreiwillig. „Aber man muss auch bedenken: Was hätte die meist jungen ukrainischen Frauen erwartet, wenn sie als Schwangere in ihre Heimat zurückgekehrt wären“, sagte Hartung. „Viele sahen darin ein großes Problem.“
Um den vielen Frauen in den Lagern Respekt zu zollen, ist das Heft in gendergerechter Sprache verfasst. Es kann im Onlineshop des Arbeitskreises erworben werden: www.arbeitskreis-historisches-geretsried.de